Interview Marcel Fratzscher
News
Interview Marcel Fratzscher
"Die Politik steht in der Pflicht"
Wir sprachen mit Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), über die Konjunkturperspektiven in der Euro zone, mögliche Risiken und die ungewöhnliche Rolle der EZB.
Herr Fratzscher, in Ihrem Vortrag auf der TRENDS im März 2015 sprachen Sie von Europa als dem Schwachpunkt der Weltwirtschaft. Wieso eigentlich? Im vierten Quartal ist die Wirtschaft in der Eurozone in Vergleich zum Vorquartal immerhin um 0,3 Prozent gewachsen?
Marcel Fratzscher: Insgesamt mag die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum zwar aufwärtsgerichtet sein, kräftig ist die Dynamik aber nicht. Man muss leider feststellen, dass die Erholung, wenn überhaupt, nur schleppend vorankommt. Die EU-Kommission prognostiziert in diesem Jahr in der Eurozone ein Wirtschaftswachstum von lediglich 0,8 Prozent. Damit hängen wir den meisten Regionen in der Welt weit hinterher. In den USA zum Beispiel erwartet der Internationale Währungsfonds ein Wachstum von 3,1 Prozent. Die Weltwirtschaft dürfte um 3,2 Prozent zulegen.
Zumindest die deutsche Konjunktur steht doch im Augenblick ganz gut da. Oder?
Die BIP-Zahlen zum vierten Quartal 2014 waren in der Tat gut. Beim DIW rechnen wir in Deutschland in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent. Das hört sich zunächst zwar ganz gut an, muss man aber im Kontext sehen. Seit der Finanzmarktkrise von 2008 ist die deutsche Wirtschaft per saldo nur um fünf Prozent gewachsen. Das ergibt ein durchschnittliches Wachstum von 0,47 Prozent pro Jahr. Viel ist das wahrlich nicht. In den Peripherieländern ist die Situation sicherlich sehr viel schlechter. In Spanien zum Beispiel ist die Wirtschaft seither per saldo um sieben Prozent geschrumpft, in Italien sogar um neun Prozent. „Auf Sicht von drei bis fünf Jahren ist das wahrscheinlichste Szenario für die Eurozone eine Stagnation und eine niedrige Inflation oder gar Deflation.“
Und die weiteren Perspektiven für Europa? Sie sind ja eher skeptisch.
Ja, leider. Auf Sicht von drei bis fünf Jahren ist das wahrscheinlichste Szenario eine mit Deflation verbundene Stagnation. Ich würde die Wahrscheinlichkeit hierfür bei über 50 Prozent ansetzen.
Und die anderen 50 Prozent?
30 Prozent, dass die Eurozone noch tiefer in die Krise rutscht und es zu einer Rezession kommt. Der Worst Case sozusagen. Und weniger als 20 Prozent, dass die Krise ein Ende findet und eine nachhaltige Erholung einsetzt. Das Problem ist, dass es in Europa zahlreiche latente Risiken gibt, wie zum Beispiel politische Krisen, Bankenkrisen, Staatsschuldenkrise oder Reformstau. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarien eskaliert, mag zwar streng für sich genommen nicht sehr hoch sein. Allerdings kann uns jedes dieser besagten Risiken im Negativfall extrem teuer zu stehen kommen, da jedes einzelne Risiko mit extrem hohen Kosten verbunden ist.
Sie haben das Risiko eines Bankencrashs genannt. Führt die geplante Bankenunion zu mehr Stabilität und Sicherheit?
Die Bankenunion ist trotz einiger Schwächen ein richtiger Schritt. Nichtsdestotrotz besteht weitergehender Handlungsbedarf. Dazu zählt zum Beispiel die längst notwendige Konsolidierung der europäischen Bankenlandschaft. Aber auch eine glaubwürdige „No bail-out“-Politik. Enorm wichtig wird es auch sein, die finanzielle Fragmentierung abzubauen.
Wie meinen Sie das?
Unter finanzieller Fragmentierung verstehe ich die in den vergangenen Jahren deutlich gestiegene Verknüpfung von Banken und Staaten. Immer mehr Banken halten einen immer höheren Anteil ihrer Bilanzsumme in heimischen Staatsanleihen. Seit 2006 hat sich die Quote in vielen Ländern fast verdoppelt. Aus einer Staatsschuldenkrise kann dann schnell eine Finanzkrise und aus einer Finanzkrise – wie 2008 gezeigt hat – eine globale Wirtschaftskrise werden. Eine Wirtschaftskrise wiederum würde die Staatsschuldenkrise weiter verschärfen. Die kausalen Zusammenhänge sind nicht zu unterschätzen. Letztendlich besteht die Gefahr, dass sowohl seitens der privaten Haushalte als auch der Unternehmen jegliches Vertrauen verloren geht.
Kommen wir zur Geldpolitik. Seit März 2015 kauft die EZB über die nationalen Notenbanken Euro-Staatsanleihen im monatlichen Volumen von 60 Milliarden Euro an. Ist dieses Quantitative Easing (QE) der richtige Schritt?
Die EZB hat damit auf die Deflationsgefahren reagiert. Von dieser Seite ist die Maßnahme nachzuvollziehen. Deflation ist eine reale Gefahr. Manche Kommentatoren wenden ein, dass von Deflation doch keine Rede sein könne. Dass die Preise, gemessen am harmonisierten Verbraucherpreisindex, stagnieren, so die Argumentation, sei vor allem fallenden Energiepreisen geschuldet. Ein Sondereffekt, der die Situation verzerre. Diesen Leuten entgegne ich, doch einen näheren Blick auf den zugrunde liegenden Güterkorb zu werfen. Tatsächlich entwickeln sich in der Eurozone die Preise von fast 40 Prozent aller im Verbraucherpreisindex enthaltenen Güter und Dienstleistung deflationär. In Frankreich, Italien und Spanien sind es jeweils sogar noch mehr. Um aber noch einmal auf das QE-Programm der EZB zurückzukommen, tatsächlich fühle ich dabei auch Unbehagen.
Damit sind Sie nicht alleine. Aber warum?
Nun, die EZB wird von der Politik in eine Rolle gedrängt, für die sie eigentlich nicht bestimmt ist. Sie wurde mit dem Auftrag gegründet, für Preisstabilität zu sorgen. Das ist ihr offizielles Mandat. Doch seit 2008 wird die EZB immer mehr dazu gedrängt, mit ihrer Geldpolitik auch Finanzstabilität zu gewährleisten. Nicht weil sie es so will, sondern durch das fehlende Handeln der Politik. Auch weil Strukturreformen unpopulär sind, wird die EZB mit Problemen konfrontiert, um die sich eigentlich die Fiskalpolitik kümmern sollte. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Eine expansive Geldpolitik ist sicherlich notwendig, sie ist aber nicht ausreichend, um die konjunkturelle Stagnation in der Eurozone zu bekämpfen. Die anderen Faktoren sind eine lösungsorientierte Fiskalpolitik und strukturelle Reformen. Die Politik steht hier in der Pflicht. „Private Investitionen sind der Schlüssel, um die Krise der Eurozone zu beenden.“
Was muss fiskalpolitisch unternommen werden?
In erster Linie wünsche ich mir, dass Strukturreformen durchgesetzt werden. Insbesondere Italien, aber auch Frankreich haben hier gewaltigen Nachholbedarf. Außerdem muss die enorme öffentliche und private Verschuldung heruntergefahren werden. Ebenso wichtig ist es, Investitionsanreize zu schaffen. In den vergangenen Jahren haben sich in einigen Euroländern, dazu gehört übrigens auch Deutschland, ganz beträchtliche Investitionslücken aufgetan. Dabei sind private Investitionen der Schlüssel, um die Krise der Eurozone zu beenden.
Haben Sie die Hoffnung, dass die Politik reagieren wird?
Eine vorsichtige Hoffnung habe ich. Aber auch die Befürchtung, dass dies noch eine ganze Weile dauern wird. Wie gesagt, ich rechne auf Sicht von drei bis fünf Jahren mit keinen nennenswerten Wachstumsschüben in der Eurozone. Auch wenn man es nicht gerne hört: Stagnation ist das wahrscheinlichste Szenario.
Herr Fratzscher, vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft. Als unabhängiges Institut mit 250 Mitarbeitern zählt das DIW Berlin zu
den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten und Denkfabriken in Europa. Fratzschers Kernaufgaben sind anwendungsorientierte Grundlagenforschung und wirtschaftspolitische Beratung.
Das in unserem Kundenmagazin Weitblick Nr.19 veröffentlichte Interview führte der Finanzjournalist Willi Weber.